Ein schräges Abenteuer
An kalten Tagen wie heute mache ich in meinen Gedanken oft Zeitreisen in die etwas wärmere Vergangenheit, den Sommer. Genauer gesagt begebe ich mich in die Zeit, die ich in der „österreichischen Karibik“, wie ich Kärnten meistens nenne, verbracht habe. Sandstrände, dekorative Palmen, Städte voller Touristen und Festivals am schönen Wörthersee – all dies befand sich in perfekter Reichweite für einen Radfahrer, zu welchem ich während meines Aufenthalts in Klagenfurt für ungefähr eine Woche geworden war. Welche Ideen kommen einem in den Sinn, wenn unser nahezu unbewölkter Stern, die Sonne, Tag für Tag mit seinen ultravioletten Strahlen auf unsere Haut scheint und bewirkt, dass 7-Dehydrocholesterol durch eine fotochemisch induzierte, 6-Elektronen-konrotatorische, elektrocyclische Reaktion zu Vitamin D3 umgewandelt wird? Der Körper bekommt reichlich Energie und fängt an, nach neuen Herausforderungen Ausschau zu halten! Somit wirkte diese Kraft auch auf mich. Ich stellte mir vor, ich sei ein Entdecker der damals noch unbekannten Karibik aus dem 16. Jahrhundert und begebe mich auf eine Expedition am Seeufer. Als Karibisches Meer diente mir natürlich der Wörthersee und als Indianische Dörfer, die am Ufer gelegenen Städte. Es packte mich der Nervenkitzel, sodass ich schnell mein in Klagenfurt ausgeliehenes Fahrrad schnappte und meine Reise ins Unbekannte somit begann. Als Ziel, mein „El Dorado“, legte ich angeblich den höchsten, hölzernen Aussichtsturm der Welt fest, welcher sich etwa 20 Kilometer von meinem Startpunkt aus entfernt auf der Höhe Pyramidenkogel befand. Er diente mir als ein toller Orientierungspunkt und das Ziel zugleich!
Meinen Ausflug begann ich, indem ich gelassen einem Radfahrweg, welcher neben einer eher lebhaften Landstraße positioniert war, Richtung Südwesten folgte. Bei der Hälfte meines festgelegten Weges angekommen, stellte ich fest, es sei jetzt besser, etwas weiter nach Süden abzubiegen, einen höher gelegenen Hügel zu besteigen und auf diese Art und Weise einen optimalen, panoramischen Aussichtspunkt zu finden. Außerdem wollte ich dem lästigen Straßenlärm entkommen. Ehrlich gesagt hatte ich keine richtige Orientierungskarte außer meiner Navigation auf dem Handy mitgenommen. Wieso sollte jedoch ein echter Entdecker wie ich sich bei solch prosaischen Hilfsmethoden bedienen? Zwar gewann ich tatsächlich an Höhe und konnte auch vor dem ständigen Lärm flüchten, jedoch stellten der Dschungel aus Bäumen, die zahlreichen Häuser sowie viele, verwirrende Straßen mein Expeditionstalent auf die Probe. Schließlich gab ich nach einer Viertelstunde auf und wandte mich an eine lokale, nette Dame, welche ich dann um Rat fragte. Es war eine von diesen typischen, älteren Frauen mit einem fröhlichen Lächeln, welche immer Freude daran fanden, anderen Menschen den Weg zeigen zu dürfen. „Fahren Sie weiter in Richtung Westen. Da, in diesen Wald hinein. Danach geht’s bergab.“, meinte sie. Gesagt, getan!
Entweder war es meine überaus große Freude über das Erhalten eines Hinweises oder einfach die zu starke Sonne, welche mich dazu tendieren ließ, den letzten Satz der freundlichen Dame eher metaphorisch als wortwörtlich zu verstehen. Fünf Minuten später raste ich bereits mit meinem Fahrrad unerwarteterweise eine von Bäumen verdunkelte Allee hinunter, welche sich meines Erachtens nach fast 45° bergab zog! Während ich anfing, zu bremsen, bemerkte ich noch in letzter Sekunde eine schräg im Boden gebaute, 10 Zentimeter breite sowie tiefe Stahlrinne, welche für den Abfluss des sich im Wald sammelnden Wassers gedacht war. Binnen Bruchteilen von Sekunden war ich dazu gezwungen, eine schwere Entscheidung zu treffen: Sollte ich sofort auf die Seite fahren, das Fahrrad verschonen und selber nach vorne und somit auch aufs Gesicht fliegen oder den ganzen Aufprall gegen die Rinne auf das Fahrrad nehmen, sich selber jedoch verschonen?Dabei muss ich betonen, dass ich keine Möglichkeit hatte, die Rinne zu überfahren. Sie durchquerte nämlich in einem äußerst schrägem Winkel die Straße, was ein Ausweichen in meinen Augen unmöglich machte. Binnen kürzester Zeit durchdachte ich das Schicksal des nicht mir gehördenden Fahrrads und traf eine Entscheidung. Es machte bumm! Zwar lag ich am Boden, jedoch heil und unversehrt. Meinem Fahrzeug ging es hingegen leider etwas schlechter. Das vordere Rad hatte sich aus einer bestimmten Perspektive gesehen zu einer acht „geformt“. Ebenso gaben die vorderen Bremsen den Geist auf. „Was nun?“, fragte ich mich selber.
Aufgrund dessen, dass ich nicht den lokalen Leuten mit meinen Problemen an einem Sonntag auf den Keks gehen wollte und mir die hohen Kosten eines Abtransportes durch eine für solche Fälle spezialisierte Firma bewusst waren, kam ich auf eine Idee der etwas anderen Art. Da ich das arme Fahrrad sowieso schon komplett geschrottet habe, dachte ich mir, ich könnte es flach hinlegen und das kaputte Rad zu seiner richtigen Position mit den Füßen zurückstampfen. Der Effekt eines 15-minütigen Verhaltens, welches von einem vorbeigehendem Menschen hätte als Furie eines Verrückten empfunden werden können, erwies sich als verblüffend. Das Fahrrad war wieder funktionstüchtig, auch wenn quietschend und nicht allzu gerade fahrend. Nun war es an der Zeit für eine Faktenanalyse sowie das Durchdenken weiterer Schritte. Währenddessen hatte ich es geschafft, aus dem dunklen Wald herauszukommen und befand mich endlich an einer Stelle, von welcher aus ich mir die ganze Gegend anschauen konnte. Eine kleine Lichtung war hierbei ideal, um ein paar Bilder eines prachtvollen, kleinen, sich am Ufer befindenden Schlosses in Form einer Seevilla mit dem elegantem Namen „Schloss Reifnitz“ zu schießen. Erbaut gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde es einem gewissen Adolf Heinrich Brecht von seinen adeligen Besitzern, Adolfs Eltern, zum Geschenk gemacht. Dieses märchenhafte Gebäude diente dem jungen Rechtsanwalt, Globetrotter und später auch Bürgermeister von Klagenfurt als Familienhaus.
Die Fahrt nach Reifnitz dauerte nicht lange, das Fortsetzen der Reise zum Turm war aufgrund des schlimmen Zustands meines Fortbewegungsmittels jedoch leider ausgeschlossen. Jetzt wurde Klagenfurt, mein damaliger Aufenthaltsort, zum Ziel. Wie ich erfuhr, startete das nächstgelegene Schiff erst in drei Stunden die Fahrt zur Hauptstadt Kärntens. Ich beschloss also, mich noch in der Stadt Reifnitz bisschen umzuschauen und langsam wieder Richtung Osten zu steuern. Meine Laune verbesserte mir ein Denkmal des VW Golf GTI, welches – wie vorhersehbar – viele, lachende Kinder bestiegen.
So fand mein Ausflug auch ein Ende, ich war aber keinesfalls von ihm enttäuscht. Schließlich fanden ja nicht alle großen Entdecker ihr eigentliches Ziel, viele nicht mal ihr Eldorado, von welchen sie so oft geträumt hatten. Ich hingegen freute mich schon auf meine nächste Reise an diesen traumhaften Ort – die österreichische Karibik!